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Die Ausbildung der
Primarlehrkräfte
an der Universität
Neue Perspektiven der Lehrerbildung in Genf
Philippe Perrenoud
Sechzig Jahre nach der Institutionalisierung der "Etudes pédagogiques en trois ans" leitet der Kanton Genf die nötigen Schritte ein, um die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer für die Vorschule und die Primarstufe in die universitäre Fakultät der Psychologie und der Erziehungswissenschaften einzubeziehen. Seit l933 ist Genf in der Lehrerbildung einen eigenen Weg gegangen, nachdem der Conseil d'Etat des Kantons sich für ein dreijähriges nachmaturitäres Primarlehrerstudium entschieden hatte. Neben den Etudes pédagogiques pour l'enseignement primaire ist an der Lehrerbildung auch die Universität beteiligt, vornehmlich in der Gestaltung des zweiten, theoretisch orientierten Studienjahres.Lange schon sind die zuständigen Instanzen sowie die Etudes pédagogiques und die Faculté de psychologie et des sciences de l'éducation damit beschäftigt, den Wechselbezug von Theorie und Praxis zu verbessern und desgleichen die Zusammenarbeit der Fakultät mit der Institution der Primarlehrerausbildung, deren Diplom die Wahlberechtigung als Kindergärtnerin oder Kindergärtner einschliesst.
Die Ansprüche an Vorschule und Schule und damit an die Lehrerschaft sind gewachsen, und sie werden im Hinblick auf die Entwicklungen, die uns das kommende Jahrhundert bringt, noch ansteigen. Darum gilt es, die künftigen Lehrerinnen und Lehrer zu kompetenten Fachleuten des Unterrichtens und Erziehens auszubilden. Das leistet im engen Praxisbezug hinfort die Universität Genf in einem Studiengang von vier Jahren Dauer, anschliessend an die Maturität oder, gestützt auf den in Genf möglichen maturitätsfreien Universitätszugang, aufgrund einer Berufslehre und Berufspraxis.Sofern das Projekt die Zustimmung der Behörden und der Universität findet - die vorgreifenden Grundentscheide sind bereits getroffen, nachdem sich eine klare Mehrheit der betroffenen Ausbildner und der Lehrerschaft dafür ausgesprochen hat -, wird Genf als erster Kanton die Ausbildung der maîtres primaires unter Einbezug der Lehrkräfte für die Vorschule integral in die Universität verlegen. Die Genfer Lehrerbildung will sich mit der Universitarisierung nicht von der Schulrealität und - praxis abheben. Im Gegenteil: Der Synergieeffekt des Theorie- und Praxiszusammenhangs soll im Ausbildungsverlauf wirksamer werden. Das Anheben der wissenschaftlichen Ansprüche an die angehenden Lehrerinnen und Lehrer der Vorschule und der Primarstufe steht diesem Ziel nicht entgegen. Inskünftig soll die Ausbildung der maîtres primaires zu einer Licence en sciences d'éducation avec mention enseignement führen und das Brevet an diesen akademischen Titel gebunden sein (Red.).
Die Organe, die sich in Genf mit der Erneuerung der Ausbildung der Lehrkräfte für die Vorschule und die Primarstufe befassen, gehen in ihrer Arbeit von einer Leitidee, einer "hypothèse forte", aus: der Schaffung der durchgehend universitären Lehrerbildung im Rahmen der "Faculté de psychologie et des sciences de l'éducation". Es gilt eine neuartige erziehungswissenschaftliche "Licence avec mention enseignement" zu schaffen. Zu erwerben ist sie in einem Studiengang von vier Jahren, der sich aufgliedert in ein allgemeines Grund- und Orientierungsstudium von einem oder von zwei Jahren Dauer ("tronc commun") und in ein stufenbezogenes berufliches Studium mit intensiver Verknüpfung von Theorie und Praxis.
Grundsätzlich befürworten die an der Lehrerbildung Beteiligten die Umstellung auf dieses Modell. Die definitive Zustimmung machen sie vom Studienplan und von einem Zusammenarbeitsvertrag abhängig, der sowohl von der Bildungsverwaltung wie von den Universitätsbehörden genehmigt werden muss. Dieses Vertragswerk wird einerseits die Modalitäten des Theorie-Praxisbezugs festlegen, das Zusammenwirken der Didaktiken in der Grundausbildung mit den Schulen und Klassen, in denen die Praktika durchgeführt werden, anderseits das Anforderungsprofil definieren, die Selek-tionsverfahren bestimmen sowie die Gleichwertigkeit und die Anerkennung der Titel u.a. regeln. Diese Arbeiten sind bereits weit fortgeschritten. Vom kommenden September an wird das Modell durch eine Projektgruppe, die l2 Mitglieder zählt - 6 Personen aus der Faculté de psychologie et des sciences de l'éducation (FPSE), sechs Vertreterinnen und Vertreter der Primarstufe -, weiter bearbeitet, konkretisiert und bereinigt. In zwei Jahren soll diese Entwicklungsarbeit abgeschlossen sein.
Aufgrund dieses Planungsstandes lassen sich hier lediglich die Leitlinien der anstehenden Innovationen darlegen, es sind jedoch noch keine Realisierungsschritte anzuzeigen. Wohl ist der "Bauplatz" installiert, aber noch gibt es Unbekannte, und die Hintergrundsbedingungen (Finanzkrise, Rezession u.a.) sind nicht so beschaffen, dass sie einen aufwendigen Neubau der Lehrerbildung ermöglichten oder eine kostspielige Gesamterneuerung begünstigten. Interessant ist es indessen allemal, zu sehen, wie man sich in Genf anschickt, die Probleme zu lösen. Wiederum geht Genf in der Konzeption der Lehrerbildung einen eigenen Weg, der sich deutlich unterscheidet von einer Entwicklung, die in den anderen Kantonen zur Schaffung Pädagogischer Hochschulen führt.
Was verspricht man sich in Genf von einem Lizentiatsstudium von vier Jahren Dauer im Rahmen einer universitären Fakultät? Im Unterschied zu den meisten anderen Kantonen bringt eine Verlegung der Ausbildung der Lehrkräfte für die Vorschule und die Primarstufe an eine Institution des ausseruniversitären Tertiärbereichs, also an eine Pädagogische Fachhochschule, der Genfer Lehrerbildung keine entscheidende qualitative Verbesserung. Eine solche Lösung müsste sich darauf beschränken, den Namen der bestehenden Lehrerbildungsinstitution zu ändern und die Etudes pédagogiques hinfort Institut pédagogique supérieur zu nennen. Einen Fortschritt könnte lediglich die Zusammenfassung aller Studiensequenzen in einer einzigen Institution erbringen.
Diese für Genf spezifische Ausgangslage schafft für die Weiterentwicklung der Genfer Lehrerbildung Voraussetzungen, die sich von denen anderer Kantone grundlegend unterscheiden. Diese äusseren Bedingungen sind jedoch nicht der Hauptgrund für die künftigen tiefgreifenden Systemänderungen in der Genfer Lehrerbildung. Im folgenden gilt es darlegen, warum in Genf der Einbezug der Lehrerbildung in eine erziehungswissenschaftliche Fakultät die anspruchsvollste und effektivste Art der theoretischen und der praktischen Ausbildung künftiger Lehrerinnen und Lehrer ist.
Seit Jahrzehnten ist die Universität in Genf in die Lehrerbildung involviert. l933 entschied der Conseil d'Etat, dass sich die Ausbildung der maîtres primaires nach der Maturität über drei Jahre erstrecke und dass sie sich in ein Initiationsjahr der Praktika und Stellvertretungen, in ein Jahr der theoretischen Studien und in ein drittes Jahr der schulpraktischen Aktivitäten und der schulbezogenen Studien gliedere. Das zweite Jahr stand ursprünglich in der Verantwortung des Institut Jean-Jacques Rousseau, das ab l929 der Faculté des Lettres zugehörte, von l970 an eine eigenständige Institution war und l975 zur Faculté de psychologie et des sciences de l'éducation (FPSE) geworden ist.
Heute, 60 Jahre nach dem strukturbestimmenden Grundentscheid, vollzieht sich die Ausbildung der Primarlehrkräfte immer noch aufgrund des Modells "bac+3". Zwei Institutionen teilen sich in die Aufgabe:die Etudes pédagogiques de l'enseignement primaire (EPEP), die dem Erziehungsdepartement zugeordnet sind, und die Section des sciences de l'éducation der FPSE. Es handelt sich dabei um eine Partnerschaft zweier Instanzen in der Lehrerbildung, die sich seit Jahrzehnten eingespielt hat.
Der Studiengang gliedert sich wie folgt:
Nach Abschluss dieser Grundausbildung erhalten die Kandidatinnen und Kandidaten ein Brevet, das zum Unterricht an den Kindergärten und Primarklassen des Kantons Genf berechtigt, seit l990 aufgrund interkantonaler Vereinbarungen ebenfalls an den Schulen der entsprechenden Stufe in den anderen französischsprachigen Kantonen. Der universitäre Anteil an diesem Lehrergrundstudium wird von der Universität als akademisches Studium anerkannt und mit dem Certificat d'études pédagogiques ausgewiesen, einem Titel, der etwa einer "demi-licence" in den Erziehungswissenschaften entspricht. Unmittelbar im Anschluss an ihre Diplomierung oder später haben die Absolventinnen und Absolventen der Lehrerbildung die Möglichkeit, ihr Studium fortzusetzen und ein Lizentiat zu erwerben. Viele diplomierte Primarlehrkräfte machen von dieser Möglichkeit Gebrauch.
Dazu kommt - und auch diesbezüglich ist Genf ein Sonderfall -, dass sich mit dem Primarlehrerdiplom die Gewährleistung einer Anstellung verbindet. Diese Garantie einer Stelle bedingt freilich eine rigorose Selektion vor Studienbeginn. In der Regel wird lediglich ein Viertel der Anwärterinnen und Anwärter mit Maturität, die sich zur Eignungsabklärung anmelden, aufgenommen. Manchmal ist der Anteil der Aufgenommenen noch geringer. Die Zahl der Studienplätze richtet sich nach der Zahl der drei Jahre später zu erwartenden vakanten Stellen.
Dieses Lehrerbildungssystem, wie Genf es seit Jahrzehnten kennt, gilt im Vergleich mit der Lehrerbildung in der übrigen Schweiz und im europäischen Umfeld als fortschrittlich. Warum es ändern? Die Lehrkräfte an Kindergärten und Primarschulen des Kantons Genf sind gut ausgebildet. Zur Grundausbildung, die sich in ihrer derzeitigen Gestalt und inhaltlichen Ausprägung bewährt hat, kommt seit anderthalb Jahrzehnten eine intensive Fortbildung , ein on the job training. Für all diejenigen, die ihre Lizentiatsstudien fortsetzen, erfolgt die Weiterbildung an der Universität. Für die Bereiche, die sich unmittelbar auf die Unterrichtspraxis und ihre Didaktik beziehen, werden die Kurse (u.a. Didaktik des Fachunterrichts in Französisch, Deutsch, Mathematik, Informatik, ferner Unterrichtsevaluation, Förder- und Stützunterricht, interkulturelle Erziehung) von den Verantwortlichen der Primarstufe organisiert, oftmals in Zusammenarbeit mit der FPSE. Nochmals stellt sich die Frage: Warum diese Lehrerbildung ändern?
Drei Gründe sind es, die die Umgestaltung der Genfer Lehrerbildung veranlassen:
Seit l986/87 arbeiten in Genf verschiedene Gremien, die in die Lehrerbildung involviert sind (Ausbildungsinstitutionen, Bildungsverwaltung, Lehrer-und Lehrerinnenverein und Vereinigung der für die Lehrerbildung Verantwortlichen) in Arbeitsgruppen an der weiterführenden Planung der Lehrerausbildung. Kern dieser Bemühungen ist die Intensivierung des Zusammenwirkens von Theorie und Praxis. Zwar verbringen die Lehramtskandidatinnen und -kandidaten im Praktikum und mit Stellvertretungen sowie durch ihr Engagement in Forschungsprojekten bereits unter den heutigen Bedingungen viel Zeit in den Schulen. Zudem besuchen sie in den Fachdidaktiken, den Erziehungswissenschaften und in Lehrveranstaltungen zur Führung einer Klasse zahlreiche praxisbezogene Kurse. All diese Elemente sind indessen nur unzureichend miteinander verbunden und nicht in befriedigender Weise in den Gesamtzusammenhang der Ausbildung integriert. Dies nicht zuletzt deshalb, weil sich die beiden an der Lehrerbildung direkt beteiligten Institutionen gegenseitig deutlich abgrenzen. Unzutreffend wäre es freilich, diese Unterschiedlichkeit dadurch zu erklären, dass sich die Fakultät einseitig auf die Theorie, die Etudes pédagogiques ausschliesslich auf die Praxis ausrichte. Zumindest seit den sechziger Jahren hat die theoretische Ausbildung, und dies nicht auf die Methodik beschränkt, in die Etudes pédagogiques Eingang gefunden. Umgekehrt hat sich die FPSE zunehmend darum bemüht, den Studierenden durch angewandte Forschung, didaktisches Erproben und Unterrichtsevaluationen zusätzliche Praxiszugänge zu erschliessen und so die theoretische erziehungswissenschaftliche Ausbildung mit dem Handlungfeld der Praxis zu verbinden (Auswertung von Unterrichtsjournalen, klinische Lehr- und Lernformen u.a).
Die Erneuerungspläne gehen nicht darauf aus, die Genfer Lehrerbildung auf revolutionäre Art umzukrempeln. Es geht vielmehr darum, zu optimieren, was im Genfer Studiengang bereits angelegt ist. Man will den Austausch von schulischen Praxiserfahrungen und Ergebnissen der theoretischen Reflexion verbessern und diesen Wechselbezug kontinuierlicher und kohärenter gestalten. Zu diesem Zwecke gilt es, den Studienverlauf in seiner Gesamtheit zu reformieren, und das so, dass die beiden beteiligten Institutionen ihre Beiträge besser aufeinander abstimmen. Diese Bemühungen haben zu einem Konzept der Neustrukturierung der Lehrerbildung geführt. Ihm liegt ein Curriculum in "Modulen" zugrunde, eine Folge von Lerneinheiten von je 4-8 Wochen Dauer, die wechselnd entweder in Schulen und Klassen oder in Form von Kursen, Seminaren und Ateliers durchzuführen sind. In diesen Lehr- und Lernveranstaltungen zur "théoretisation" geht es nicht darum, ein vorgegebenes Curriculum zu realisieren, sondern vielmehr darum, gestützt auf theoretische Einsichten zu reflektieren, was sich in den schulpraktischen Uebungen empirisch erfahren lässt. In Aussicht genommen ist eine Studienorganisation in zeitlicher Aufteilung, etwa so, dass die Studierenden einen Teil des Tages oder der Woche in der Schule, den andern in Ateliers verbringen. Equipen der beiden Ausbildungsinstitutionen führen die Lerneinheiten in ihrer Abfolge wechselnd und koordiniert durch.
Der neu konzipierte Studienverlauf findet allseitig Zustimmung. Man hat sich gefragt, wie sich ein so eng koordiniertes Zusammenwirken zweier Institutionen besser absichern liesse. Trotz der an die 60 Jahre bestehenden Zusammenarbeit hat jede der beiden Institutionen ihr eigenes Selbstverständnis, ihre unterschiedlichen Strukturen und ihre je eigenen Funktionen bewahrt. Sie lassen sich wie folgt beschreiben:
Da findet sich
Erstaunt es da, dass sich dem Verbund dieser beiden so unterschiedlichen Bildungseinrichtungen Hindernisse in den Weg gestellt haben, sobald man sie zu einer fast durchgehenden Zusammenarbeit hat veranlassen wollen? Es ist unbestreitbar, dass jedes Zusammenführen zweier Partnerinstitutionen die Eigenständigkeit, die Macht, den Besitzstand und die erworbenen Rechte der einzelnen einschränkt. Für die hier und dort wirkenden Personen ist dies mit Verlusten verbunden und mit Risiken behaftet. Das kann indessen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Ursachen eines allfälligen Widerstandes gegen eine Zusammenlegung der Institutionen tiefer liegen. Sie sind in ihrer inneren Art, in ihrer je spezifischen Kultur und Struktur begründet.
So galt es denn, im Verlauf des Meinungsbildungsprozesses die aus diesen Gegebenheiten hervorgehenden Probleme zu lösen. Immerhin: Das neu entworfene Studienkonzept fand in seinen Grundzügen früh die Zustimmung aller. Jetzt ging es darum, einen Weg zu finden, wie sich die Neukonzeption in der Zusammenarbeit der Institutionen umsetzen liess. Diese Diskussion führte allerdings zunächst in eine Sackgasse. Der Reformprozess war blockiert. Nach einer Zeit des Tretens an Ort kamen alle Beteiligten überein, dass sich die neue Lehrerbildungskonzeption nur verwirklichen lässt, wenn inskünftig eine einzige Institution für die Lehrerbildung zuständig ist.
In Kantonen, in denen es darum geht, die Mittelschulseminare in Pädagogische Hochschulen umzuwandeln, wird sich die Erneuerung der Lehrerbildung in gleicher Weise vollziehen wie die Umwandlung der höheren Fachschulen (Ingenieurschulen, Schulen für paramedizinische Ausbildungen und für soziale Arbeit, für bildhaftes Gestalten und für Musik) in Fachhochschulen. Sie haben die dem Tertiärbereich gemässen Lehr- und Lernformen zu entwickeln und die Studienanforderungen anzuheben. Anders in Genf: Hier sind die Dozentinnen und Dozenten der erziehungswissenschaftlichen Fakultät seit vielen Jahren in die Lehrerausbildung einbezogen. Es wäre absurd, sie aus dieser Fakultät abzuziehen und sie in einer universitätsunabhängigen Pädagogischen Hochschule neu ansiedeln zu wollen. Es kann in Genf keine Frage sein, die Lehrerbildung von der Universität wegzunehmen und sie auf die Ebene einer Fachhochschule zu verlagern. Ein solches Unterfangen bedeutete für die Genfer Lehrerbildung einen Rückschritt und eine Abwertung. Dies auch mit Berücksichtigung des Umstandes, dass die Absolventinnen und Absolventen der Lehrergrundausbildung - wie oben dargestellt - mit ihrem Studium praktisch die Hälfte eines Lizentiatsstudiums ausweisen. Seit Jahren ist deshalb in Genf die Rede davon, auch für den Primarlehrerberuf ein integrales Lizentiat zu verlangen.
Das ist denn auch der Grund, weshalb in Genf unter anderen Bedingungen an sich interessante Lösungsmöglichkeiten nicht weiter verfolgt wurden. Es sind dies u.a. die Projekte zur Schaffung einer von der Universität unabhängigen Pädagogischen Hochschule oder eines dem Erziehungsdepartement zugeordneten Hochschulinstituts. In Genf schlösse jede derartige Lösung die Schwierigkeit ein, einen integralen Studiengang in der Zusammenarbeit zweier unterschiedlicher Institutionen zu konzipieren. Die erziehungswissenschaftliche Abteilung der FPSE war auch nach zwei Jahren des Planungsstillstandes nicht bereit, auf den Status quo zurückzukommen, über dessen begrenzte Möglichkeiten sich jedermann im klaren war. Die FPSE hat darum den Schritt nach vorn getan und hat die Schaffung eines neuen Lizentiatstyps und eines ihm gemässen spezifischen Studiengangs beantragt, die Licence en sciences de l'éducation avec mention enseignement, ein Lizentiat, das die Vorbereitung auf den Primarlehrerberuf zum Ziel hat. Nach einem Jahr der Debatten, der oft heftig geführten Auseinandersetzungen, der parlamentarischen Interventionen und der Meinungsäusserungen in der Presse hat die Mehrheit der Betroffenen dem Antrag der FPSE zugestimmt. Die Zukunft wird zeigen, ob sie sich als diese zukunftsweisende Struktur der Genfer Primarlehrerausbildung realisieren lässt.
Diese Nachzeichnung der Strukturdebatte darf indessen nicht dazu führen, dass man das Wesentliche aus den Augen verliert. Die Studienorganisation ist lediglich das Gerüst einer Ausbildung, die dahin zielt, das Ineinandergreifen von Theorie und Praxis in der Lehrerbildung zu verbessern und dadurch die beruflichen Kompetenzen der Lehrkräfte zu erhöhen.
Ungefähr seit l990 zeichnet sich in Europa eine allgemeine Entwicklung ab, die zur "Universitarisierung" (frz. "universitarisation") der Primarlehrerausbildung führt. Dieser weitverbreitete Trend kommt eben zur richtigen Zeit und unterstützt das Genfer Projekt der Verlegung der Ausbildung der Primarlehrkräfte an die Universität. Zwar hat diese Tendenz je nach den besonderen nationalen und regionalen Voraussetzungen unterschiedliche Beweggründe. Ihre genaue Analyse bedingte eine eingehende Vergleichsstudie, doch lassen sich auch so einige Hauptargumente skizzieren.
Der Ausbau des Tertiärsektors in den entwickelten Gesellschaften trägt dazu bei, aus dem Lehrerberuf einen Beruf zu machen "wie andere auch". Die Berufe im sozialen und pädagogischen Bereich haben sich sehr stark differenziert. Neben den erzieherischen Berufen und den Unterrichtsberufen gibt es u.a. die Berufe des Gesundheitswesens und des Sozialdienstes, die vielseitigen Dienstleistungen der Pflege, der Vermittlung, der Beratung und der Therapien. Feststellen lässt sich auch, dass sich die Gesellschaft zunehmend vom Staat abhebt. Im Zuge dieser Entwicklung entziehen sich die erzieherischen Einwirkungen zum Teil wenigstens dem Einfluss und Zugriff der Oeffentlichkeit. Es wird immer schwieriger, den Beruf des Erziehens und Unterrichtens als ein Laienpriestertum zu verstehen und die Aufgabe der Ausbildung der Lehrpersonen als Monopol des Staates anzuerkennen. In diesem Sinne bedeutet die "Universitarisierung" der Lehrerbildung zugleich eine Liberalisierung. Angehende Lehrerinnen und Lehrer finden sich an der Universität mit den Anwärtern auf andere akademische Berufe zusammen. Es kommt somit der Berufsrolle der Lehrerin und des Lehrers, aber auch der bislang vom Staat in besonderem Masse in die Pflicht genommenen Lehrerbildung kein spezieller Status mehr zu.
Die Bildungssysteme haben allen Grund, sich von der Selbstreproduktion der Berufsbilder zu distanzieren. Zu lange hat das Prinzip der Imitation und der Reproduktion vorgegebener Verhaltensmuster die Ausbildung der Lehrkräfte, vor allem derjenigen der Primarstufe, bestimmt. Seit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht hat das Bildungssystem Lehrerinnen und Lehrer in der Weise ausgebildet, dass die Verwaltung durch ihre Kader auf die Lehrerbildung in einer Art eingewirkt hat, die ihresgleichen sucht und die in anderen Berufsbildungen undenkbar gewesen wäre. Diese "hausgemachte" Ausbildung rechtfertigte sich mit der Absicht und Pflicht, die Schulpraxis vereinheitlichenden Normen zu unterwerfen. Die ideologische Einflussnahme und Kontrolle durch den Staat schien wichtiger zu sein als die Vermittlung professioneller Kompetenzen. Heute zeigen sich die negativen Auswirkungen dieser bildungspolitischen Optionen in der Uniformität der Ausbildungs- und Qualifikationsprofile und der Denkweisen sowie in der Bildungsbürokratie. All das lähmt die Lehrkräfte in der Ausübung ihres Berufes und macht sie unfrei. Vom Zeitpunkt des Abschlusses ihrer Grundausbildung an sind viele Lehrerinnen und Lehrer mehr darauf bedacht, ihre Anstellung zu sichern, als sich für die Realisierung von Innovationen im Schulbereich einzusetzen. Anpassung, Karrierestreben und Protektionismus bestimmen die beruflichen Aktivitäten mancher Lehrpersonen.
Im Zuge der europäischen Integration und auch als Reaktion auf die wirtschaftliche Krise ist man bemüht, die Aequivalenz der Diplome sicherzustellen und dadurch eine erhöhte Mobilität der Lehrpersonen zu erwirken. Jedes Bildungssystem ist bestrebt, die Lehrkräfte nach Massgabe der voraussehbaren Rekrutierungsbedürfnisse auszubilden. Dabei begegnen wir einer zweifachen Schwierigkeit:
Da ist zum einen die Gefahr, sich in den Bedarfsprognosen regelmässig zu täuschen. In Zeiten demographischer Bewegungen sind Fehlberechnungen unausweichlich. Sie sind nicht allein bedingt durch Schwankungen in den Geburtsraten, sondern ebenso Folge einer wachsenden beruflichen Mobilität und einer durch wirtschaftliche Entwicklungen mitbedingten, kaum voraussehbaren Migration. Das führt im Wechsel zu Zeiten des Lehrermangels und des Lehrerüberflusses. Diese Entwicklungen, die sich der Selbstregulation durch Angebot und Nachfrage entziehen, sind unerwünscht, nicht zuletzt auch ihrer hohen Kostenfolgen wegen.
Zum andern führt die auf die Bedarfsprognose abgestützte Selektion von Jahr zu Jahr zu Spannungen und Konflikten. Sie sind bedingt durch unterschiedliche Erwartungen und durch die daraus hervorgehenden Auseinandersetzungen zwischen der Bildungsverwaltung, der Ausbildungsinstitution, den Berufsverbänden und den potentiellen Studentinnen und Studenten. Der Kampf um Stellen spielt sich in Genf im Rahmen des Auslese- und Aufnahmeverfahrens ab und nicht in gleichem Masse bei der Aufnahme der Berufstätigkeit, da den Absolventinnen und Absolventen der Ausbildung in diesem Kanton ja eine Stelle zugesichert ist.
Im weiteren ist festzustellen, dass sich der Status und die Entlöhnung der Lehrkräfte der verschiedenen Stufen und Schultypen, der Primar- und der Sekundarstufen annähern. Auch wenn die Meinungen innerhalb des Lehrkörpers in dieser Sache noch divergieren, ist es zwingend, sich zu verständigen und einem Abbau der Hierarchisierung zuzustimmen, wenn die Lehrerschaft in den Lohnverhandlungen geschlossen und stark auftreten will. Dabei ist zu beachten, dass die immer anspruchsvolleren Aufgaben der Lehrkräfte sowie die erhöhten Ansprüche der Lehrprogramme, der Didaktik und der Schulführung in zunehmendem Masse eine zeitliche Abstufung der Ausbildungsdauer nach Massgabe des Alters der Schülerinnen und Schüler ausschliessen. Die Aufgabe, Kinder im Alter von 5 Jahren in ihrer Intelligenz und in ihrer Gesamtpersönlichkeit zu fördern, verlangt nicht geringere berufliche Kompetenzen als Maturanden in stark selektionierten Klassen in Philosophie zu unterrichten. Die Humanwissenschaften sehen bezüglich dieser beiden Aufgaben keinen qualitativen Rangunterschied, obschon die benötigten Kompetenzen der Lehrpersonen nicht identisch sind und obwohl das Verhältnis von didaktischer Kompetenz und Wissenskompetenz in der betreffenden Disziplin auf den verschiedenen Stufen unterschiedlich ist.
Die Tendenz, den Primarschulunterricht aufzuwerten, ist in der allgemeinen Entwicklung des Bildungswesens unverkennbar. "Moins qu'un canari!" So lautet der Titel eines Aufsatzes von J.-A. Tschoumy (l99l), in dem er die Unbedachtheit unserer Gesellschaft kritisiert, einer Gesellschaft, die den Lehrkräften, denen sie die Erziehung ihrer Kinder anvertraut, geringere Qualifikationen abverlangt als den Veterinärmedizinern, die unsere Kanarienvögel pflegen. In diesem Punkt sind die Vorstellungen noch sehr konträr. Noch gibt es Eltern, die denken, mit einer Portion "bon sens" und ein wenig Wissen sei jede und jeder befähigt, im Kindergarten und auf der Primarstufe zu unterrichten. Diese Meinung ist freilich nicht mehr dominant. Im Gegenteil: Die Eltern verlangen immer mehr von der Schule, und ein wachsender Anteil unter ihnen ist darauf bedacht, den "nouvelles classes moyennes" zur Anerkennung und zu dem ihnen zukommenden Status zu verhelfen.
All diese Beweggründe tragen dazu bei, die Ausbildung der Primarlehrkräfte in die Universität zu verlegen, in einen fakultären Bildungsbereich, der von der Bildungsverwaltung unabhängig ist. An der Universität gibt es keine oder nur eine eingeschränkte Aufnahmeselektion. Umgekehrt ist in gleicher Weise wie für die anderen Studierenden die Ausübung des Berufes nach Abschluss des Studiums nicht garantiert. Dies im Gegensatz zu den Etudes pédagogiques.
Im Unterschied zu den Mittelschulseminaren, wie sie in mehreren Kantonen noch Bestand haben, führt eine angehobene, universitäre Primarlehrerausbildung nicht zu einer Interiorisierung von Normen und von systembezogenen schulischen Verhaltensmustern. Dieses Abstandnehmen von einer engen schulischen Sozialisation schafft keine Defizite, im Gegenteil! Angehende Lehrerinnen und Lehrer kommen in ihrer Ausbildung mit Studierenden zusammen, die andere berufliche Aktivitäten anstreben. Das ist zu begrüssen. Zudem gewinnen sie mit dem Lizentiat eine für Lehrkräfte neuartige berufliche Mobilität. Sie haben die Möglichkeit zu Funktionsübernahmen in anderen Berufen und in Schulen anderer Regionen.
All den genannten Entwicklungen ist eines gemeinsam: Sie stehen in keinem direkten Zusammenhang zur Qualität des Unterrichts. Zwar bewirkt die "Universitarisierung" der Lehrerbildung eine Anhebung des Niveaus der Lehrerqualifikationen, wenigstens im formellen Sinn. Bedeutet dies indessen, dass das pädagogische Handeln im Berufsfeld mit Sicherheit effizienter wird? Dem wird nur dann so sein, wenn die Veränderungen zur Erhöhung der beruflichen Kompetenzen beitragen. Im Hinblick auf diese Zielsetzung gilt es, auf die Bedeutung des Theorie-Praxis-Bezuges zurückzukommen.
Der Strukturentscheid, der sich in Genf vorbereitet, geht in diesem Punkt von eindeutig definierten Prämissen aus. Nicht eine Erweiterung der "culture générale" oder die Installierung disziplinbezogener fachwissenschaftlicher Studien ist mit der Verlegung der Lehrerbildung an die Universität angestrebt, obschon das auf dem Bildungsgang zu einer eidgenössisch anerkannten Maturität erworbene allgemeine Wissen für die Ausübung eines Lehramtes auf der Primarstufe nicht völlig ausreicht. In erster Linie ist dabei dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Lehrpläne der Primarschule mehr als diejenigen der Gymnasien der Körpererziehung, dem Bildhaften Gestalten, dem Handarbeiten und Werken sowie der Musik breiten Raum geben. Wenn wir Lehrerinnen und Lehrer zu Allroundern ausbilden wollen, genügt es eben nicht, ihnen eine Sachkompetenz in den Lernbereichen Französisch, Deutsch, Mathematik, in den Naturwissenschaften, in Geschichte und Geographie zu vermitteln, und das schon gar nicht in der Art, wie diese Fächer an den Gymnasien unterrichtet worden sind.Es besteht keine Notwendigkeit, angehende Primarlehrkräfte zu Fachstudien an den beiden philosophischen Fakultäten zu veranlassen, es sei denn, man biete ihnen wahlweise Lehrveranstaltungen an, die ihren persönlichen Bildungsbedürfnissen entsprechen. In diesem Sinn geht es in Genf im Zuge der Universitarisierung der Lehrerbildung keinesfalls darum, für die angehenden Lehrkräfte des Kindergartens und der Primarstufe eine Ausbildung nach dem Muster derjenigen der Lehrerinnen und Lehrer der Sekundarstufen zu gestalten. Die Ausbildung der Primarlehrkräfte ist nicht einfach z.B. ein schmaleres Studium mit eingeschränkten akademischen Anforderungen, etwa einer "demilicence" in Mathematik oder in Geschichte entsprechend.
Ein solcher Abklatsch eines Ausbildungsgangs zum Lehrer oder zur Lehrerin der Sekundarstufen kann nicht gewollt sein:
Zum einen, weil innerhalb der obligatorischen Schule eine weitgehende Spezialisierung der Lehrpersonen nicht nötig und nicht gewollt ist. Jede innere Reform der Mittelschule stösst an Grenzen wegen der Aufsplitterung des Unterrichts nach dem Diktat der Stundenpläne, wegen des Fächerkampfes um Terraingewinn, wegen der Schwierigkeit, projektorientiert in pädagogischen Teams zu arbeiten, wegen der Vorherrschaft der Wissensinhalte und der Hintanstellung der Lernenden. Es wäre irrig, diese Schwächen und Hindernisse der Sekundarstufen, die mehr und mehr erkannt werden, in der Ausbildung der Primarlehrkräfte zu reproduzieren.
Zum andern, weil die berufliche Ausbildung der Lehrpersonen der Sekundarstufen den Ansprüchen an die Professionalität einer pädagogischen, didaktischen und schulpraktischen Lehrerbildung nicht genügt und weil sie, verglichen mit der Dynamik, mit der sich die Schülerinnen und Schüler verändern, statisch ist und somit für die Primarlehrerbildung kein nachzuvollziehendes Modell abgeben kann.
Ganz allgemein lässt sich feststellen, dass alles Nachdenken über Erziehung in unserer Zeit das Hauptgewicht auf übergreifende Zielsetzungen legt (vgl. Bourdieu und Gros, l989), auf die Entwicklung der Denkfähigkeit, auf die Befähigung zu argumentieren, zu kommunizieren, zu antizipieren, einen Sachverhalt zu erörtern, selbständig zu lernen, in Frage zu stellen, sich etwas vorzustellen, zu variieren und zu übertragen, also auf Schlüsselqualifikationen und nicht auf die Speicherung von Wissen, das sich heutzutage schnell als überholt erweist. Unterrichten heisst immer weniger ein Erteilen von Lektionen, sondern mehr und mehr ein Erzeugen von Lernsituationen, die günstige Voraussetzungen schaffen für das Entwickeln von Konzepten, für die Anwendung von Methoden und den Transfer von Lernergebnissen. Mit dem Wandel des Rollenverständnisses der Lehrenden werden die Aufgaben der Klassenleitung, der Gestaltung der Beziehungen, die formative Evaluation, die innere Differenzierung und Individualisierung des Unterrichts, die Diversifikation der Lernwege und der Sozialformen im Lernprozess zu den wichtigsten Anliegen und Mitteln der Lernförderung. Selbst in den Fachdidaktiken erwirken akademische Fachkenntnisse nichts, wenn sie sich nicht anknüpfen lassen an die Befähigung zur zielorientierten Planung, zum einfallsreichen Erfinden und Arrangieren von Lernsituationen. Einzig die Lehrkräfte, die mit älteren, streng selektionierten Schülerinnen und Schülern arbeiten, können es sich leisten, davon auszugehen, dass allein die kompetente Beherrschung des Stoffes durch die Dozenten in den Lernenden den Aufbau des Wissens ermögliche.
Eine erziehungswissenschaftliche Ausbildung angehender Lehrkräfte legt den Akzent auf die Spezifika des Berufes, so wie wir ihn heute verstehen, auf die didaktische Disposition, die Schaffung günstiger Lernvoraussetzungen und differenzierter Lernsituationen, die den Möglichkeiten des einzelnen in individualisierter Weise entsprechen. All diesen zeitgemässen Aspekten der Professionalität von Lehrpersonen, wie sie sich einerseits aus der Schulpraxis, anderseits aus der erziehungswissenschaftlichen Forschung ergeben, steht eine Universitarisierung der Lehrerbildung nicht entgegen.
In der Gesellschaft finden diese neuartigen Lehr- und Lernperspektiven deshalb ein positives Echo, weil man sich bewusst wird, welchen neuen Herausforderungen sich die Schule zu stellen hat. Die Volksschule kann sich heutzutage nicht mehr damit begnügen, den Kindern wie vor hundert Jahren lediglich das Lesen, das Schreiben und das Rechnen beizubringen. Damit wir im 2l. Jahrhundert das Leben bestehen, bedarf es weit mehr, und das nicht allein deshalb, weil wir uns den neuen Technologien zu stellen haben, den ständigen schnellen Veränderungen und dem Wandel der beruflichen Anforderungen, sondern auch deshalb, weil wir in der Lage sein sollen, immer komplexere politische Zusammenhänge zu durchschauen und in einer multikulturellen und zunehmend vernetzten Welt an den politischen Entscheiden, die sich als immer folgenschwerer erweisen, aktiv teilzuhaben. Nicht zuletzt auch, damit wir ungeachtet der Beeinflussung durch die elektronischen Informationsmedien und angesichts der Gentechnologie, der Krankheiten und der Auswüchse des Gesundheitswesens, der Rechtsverwirrung, des Brüchigwerdens der sozialen Sicherheit, des undurchschaubaren Bankensystems und Versicherungswesens sowie einer Orwell'schen, aufgeblähten Verwaltung unser persönliches Alltagsleben weiterhin selber zu gestalten vermögen.
Wenn heutige Regierungen sich zum Ziel setzen, 80% einer Jahrgangspopulation in ihrer schulischen Bildung zu einem "baccalauréat" zu führen, fordern sie von der Schule, was bisher keine Generation von ihr verlangt hat: eine nie gekannte, neue Effizienz. Es genügt nicht mehr, diejenigen zu bilden, die aufgrund ihrer Anlage und Begabung dazu die Voraussetzungen mitbringen. Jetzt soll die Schule alle erreichen: die wenig Motivierten, die Widerspenstigen, diejenigen aus schulfernem familiärem Milieu. Diese ehrgeizigen Vorhaben sollen sich in einer Gesellschaft realisieren, in der es schwieriger wird zu unterrichten, und das zufolge der Veränderung der Familienstruktur, des Wissens, angesichts des Autoritätszerfalls, der Verstädterung, der Immigration, der Konsumwut. In den Städten haben es die Lehrerinnen und Lehrer heute in ihren Klassen mit Kindern verschiedener Ethnien oder Nationen zu tun, mit Kindern, die verschiedene Sprachen sprechen, mit Kindern, deren Leben in den Vororten und den grossen Ueberbauungen hart, oftmals sehr hart ist und für die Auseinandersetzungen, Widerstand und Gewalt zum Alltag gehören. Die Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer ist nicht allein dann schwierig und kaum zu bewältigen, wenn sie es mit Drogen, mit Gewalt, mit Prostitution und mit grosser Armut zu tun haben. Auch ohne solch grosse Probleme wird es zunehmend schwierig, den Bildungsauftrag zu erfüllen. Und da erwartet die Gesellschaft, dass die Schule wirksamer sei als je zuvor! In dem Masse, wie sich die Unterrichtsbedingungen verschlechtert haben, sind die beruflichen Anforderungen an die Lehrpersonen gestiegen.
In dieser Lage gibt es zwei Wege, die sich stellenden Aufgaben anzugehen:
Der eine besteht darin, auf die Technologien zu setzen, auf die Fabrikation didaktischer Curricula, auf mehr und mehr ausgeklügelte Evaluationsverfahren, die von Lehrpersonen angewandt werden, die ihre Autonomie zusehends einbüssen. Die pädagogische Praxis wäre alsdann ausgedacht, geplant und geleitet von Spezialisten. Chevallard nennt diese Experten-Crew die "noosphère": Spezialisten der Lernzielfindung, der Curriculum-Konstruktion, der Lernmethoden, der Lehrmittelherstellung, der Evaluationstechniken, der"schlüsselfertigen" Didaktiken mit Anwendungshilfen, der Bildungstechnologien etc. Man könnte diesen Weg der Schulentwicklung den der "Proletarisierung" der Lehrerschaft nennen. Die Bezeichnung steht in Anführungszeichen, weil sie dem Tertiärbereich nicht angemessen und unvereinbar ist mit einer universitären Ausbildung und mit einer ihr und der beruflichen Verantwortung entsprechenden Entlöhnung. Sie charakterisiert sich durch den Entzug der beruflichen Autonomie und durch die Abhängigkeit von einer Gruppe von Spezialisten des schulischen, pädagogischen und didaktischen Ingenieurwesens.
Anders der zweite Weg: Er besteht darin, die berufliche Autonomie und die individuelle wie kollektive Verantwortlichkeit der Lehrerschaft zu verstärken, indem man sie zur Erfüllung ihres Auftrages befähigt. Es ist dies der Weg der Professionalisierung (Bourdoncle, l99l; Carbonneau, l99l; Cifali, l99l a; Huberman, l986, l989, l99l; Labaree, l992; Lemosse, l989; Perrenoud, l993 a, b, c). Es ist dies eine Ausbildung von hohem Niveau. Die Verlängerung des Studiums und sein Einbezug in die Fakultät sind indessen nicht ausreichende Massnahmen zur Höherqualifizierung der Lehrerinnen und Lehrer. Gefordert ist die Ausbildung von "praticiens réfléchis"(Schön, l983, l987; Gather Thurler, l992), die Heranbildung von Fachleuten, die fähig sind, ihr berufliches Handeln zu reflektieren und selbständig, im Team und in der Gesamtheit des Kollegiums, in einer grösseren Gruppe und im Rahmen der Lehrerfortbildung lebenslang zu lernen und ihren Unterricht innovativ zu verbessern.
Noch sind die Würfel nicht gefallen. Von Professionalisierung ist zwar allenthalben die Rede, und doch mehren sich die Anzeichen der "Proletarisierung", der Verschlechterung der beruflichen Bedingungen und der Expertokratie. Das Genfer Projekt begegnet dieser Fehlentwicklung, indem es sich konsequent an der Leitidee der Professionalisierung orientiert. Die erziehungswissenschaftliche Forschung öffnet Einblicke in die Komplexität des Amtsauftrages der Lehrkräfte. Sie macht die Schwierigkeit bewusst, allen Situationen planend zu begegnen, sei es aufgrund vorgegebener Verhaltensweisen oder abgestützt auf theoretische Erkenntnisse. Wer Unterrichten zu seinem Beruf macht, erlebt des öftern, dass er versagt (Cifali, l986), dass ihn die Umstände zu didaktischer Bastelei verurteilen (Perrenoud, l983) und dass er dem Zeitdruck ausgeliefert ist ( Huberman, l983). Der Lehrerberuf ist ein Beruf, der eine intensive Identifikation mit der Aufgabe und eine entsprechende Vorbereitung bedingt, die Befähigung, Probleme und Konflikte in Situationen der Verunsicherung zu lösen, den Belastungen standzuhalten und sich persönlich engagiert einzubringen. Um all diesen Forderungen zu genügen, reicht eine anspruchsvolle, jedoch einseitig theoretische Ausbildung nicht aus. Es bedarf von Beginn der Ausbildung an in ihrem gesamten Verlauf einer"klinischen Schulung" (Cifali, l99l; Perrenoud, l993 c), in der Theorie und Praxis eng verbunden und wechselseitig aufeinander bezogen sind. Dies zu realisieren ist die entscheidende, die herausfordernde Aufgabe der Lehrerbildung.
Damit sich dieses Ziel erreichen lässt, sind drei sich untereinander bedingende Aspekte zu berücksichtigen:
Ausgehend von diesen Leitlinien ist dieser Studiengang zugleich innovativ und realitätsbezogen zu konzipieren. Die Genfer Lehrerbildung will sich offen zeigen für die Aufnahme von Erfahrungen, die man in der Ausbildung der Primarlehrkräfte in anderen schweizerischen Kantonen und in Europa macht, und das ungeachtet des Umstandes, dass Genf mit seiner Lehrerbildung einen eigenen Weg geht.
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